Archiv für den Monat Oktober 2015

Gesamtschule und Demokratieverständnis

Matthias Hofer

Es ist schon eine besondere Art von Demokratieverständnis, wenn sich die Tiroler Bildungslandesrätin Beate Palfrader zur Forderung versteigt, gesetzlich verankerte Mitbestimmungsrechte von Eltern, Schülern und Lehrern bei der Einführung von Schulversuchen einfach abzuschaffen, nur weil die Schulpartner ihren unausgegorenen Gesamtschulphantasien nicht folgen wollen (siehe dazu einen Artikel im Standard vom 6.10.2015).

Palfrader liefert damit ein Paradebeispiel dafür, wie realitätsfern die Politik agiert. Denn der einzige nachweisbare Effekt der Modellregion im Zillertal ist der, dass die nächstgelegenen Gymnasien in Schwaz einen hohen Zustrom an Schülern aus der Modellregion verspüren, diesen aufgrund von Platzmangel nicht bewältigen können und so vielfach Kinder mit Gymnasialreife abweisen müssen.

Wenn also Palfrader schon auf die Meinung der Betroffenen pfeift, so könnte man doch annehmen, dass sie zumindest Beschlüsse ihrer eigenen Partei respektiert. Doch auch hier weit gefehlt! Die Beschlüsse des heurigen Bundesparteitages der ÖVP scheinen an ihr spurlos vorüber gegangen zu sein.

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Genormte Schularbeit verbessert Aufnahme ins Gymnasium

turtscher wolfgang 2ÖAAB-Lehrer-Obmann Wolfgang Türtscher: Genormte Schularbeit verbessert Aufnahme ins Gymnasium

„Der Vorschlag der Arbeitsgruppe des Vorarlberger Landesschulrats, durch eine „genormte Schularbeit“ in der 4. Klasse der Volksschule den Zugang zum Gymnasium bzw. zur Mittelschule gerechter und transparenter zu gestalten, ist zu begrüßen“, zollt Wolfgang Türtscher, der Obmann der ÖAAB-Lehrer in Vorarlberg den Weichenstellungen des Landesschulrats Respekt. „Die Volksschulnote allein ist kein geeignetes Mittel, über eine Zulassung zu entscheiden,“ das hat die zuständige Landesschulinspektorin Karin Engstler immer wieder betont. „Es ist erfreulich“, so Türtscher, „dass dieser richtigen Analyse Taten folgen!“

“Wenn in der 4. Klasse der Volksschule alle Volksschüler des Landes die gleiche Prüfungsaufgabe erhalten, bedeutet das nicht nur einen höheren Grad an Objektivität und Verbindlichkeit“, so Türtscher, „sondern nimmt auch Druck von den Volksschullehrern, den betroffenen Eltern und Schülern. Die Änderung der Aufnahmekriterien ins Gymnasium durch ein längerfristiges Prognoseverfahren am Ende der Volksschule ist eine inzwischen alte Forderung des ÖAAB-Vorarlberg, zuletzt wieder im Rahmen des ÖAAB-Leitantrages vom 20. März 2015.“

Damit wird auch das Anliegen von ÖVP-Klubobmann Roland Frühstück erfüllt, der am 5. Mai 2015 zur Übergangsregelung Volksschule Gymnasium bzw. Mittelschule verlangt hatte: „Kurzfristig nützen nur faire Zeugnisse. Aus meiner Sicht muss es allerdings unser Anspruch sein, dass alle Kinder der 4. Klasse Volksschule ihren Leistungen und Potenzialen entsprechend benotet werden. Alles andere ist ein Armutszeugnis.“

Haben wir noch ein staatliches Schulsystem?

turtscher wolfgang 2ÖAAB-Lehrer-Obmann Wolfgang Türtscher: Haben wir noch ein staatliches Schulsystem?
Utl: OECD ist für Bildung nicht zuständig!

„Seit etwa 15 Jahren wird unser Bildungssystem mit einer Reihe von Modevokabeln und externen Playern durcheinandergewirbelt, ohne dass ein erheblicher Nutzen bemerkbar wäre“, bringt Wolfgang Türtscher, der Obmann der Lehrerinnen und Lehrer in Vorarlberger ÖAAB, eine deutliche Verunsicherung der in der Schule Tätigen auf den Punkt. „PISA, Individualisierung und Personalisierung, Inklusion, Standards,  TIMMS, PIRLS und internetbasierte Rückmeldeverfahren sind plötzlich die neuen Leitbilder, als „Vorgesetzte“ setzen sich die OECD, Andreas Schleicher, die Bertelsmann-Stiftung, die skandinavischen Länder, die Reformpädagogik, Lenkungsausschüsse und Projektkoordinatoren in Szene. Als „vorläufiger Höhepunkt“ dieser Entwicklung orientiert sich das „Vorarlberger Forschungsprojekt der Schule der 10- bis 14-Jährigen“ nicht etwa am Artikel 14 unserer Bundesverfassung („Schulwesen“) oder am § 2 des Schulorganisationsgesetzes („Aufgabe der österreichischen Schule“), sondern an den „Qualitätskriterien der OECD für erfolgreiche Schulsysteme“.

„Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, die OECD mit Sitz in Paris ist die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ mit 34 Mitgliedern, die sich der Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlt. Das ist die Nachfolgeeinrichtung der OEEC, deren Aufgabe der wirtschaftliche Wiederaufbau in Europa durch die Gelder des Marshallplans seit 1948 war. Sie hat also mit Bildung so viel zu tun wie die Bäckerinnung mit Klimapolitik“, hält Türtscher fest.

„Aufgabe der österreichischen Schulpolitik ist es, verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Lehrenden unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen ihren Aufgaben nachkommen können. Insbesondere ist sicherzustellen, dass die Pflichtschullehrer in die Lage versetzt werden ungestört unterrichten und ihren Schülern etwas beibringen zu können. Natürlich hat Lehr-, Lern- und Methodenfreiheit zu gelten, was etwa in den Neuen Mittelschulen (NMS) durch die Abschaffung der Leistungsgruppen nicht mehr der Fall ist“, kritisiert Türtscher.

„Die in der Folge der PISA-Studien durchgeführten Reformen, die durch Standards, Tests und Kompetenzorientierung die Bildungsqualität und die Zahl der Abschlüsse heben sollten, sind gescheitert“, hält Türtscher fest. „Die österreichischen Schule soll sich an den Grundwerten der Schule orientieren, die sich im Artikel 14 der Bundesverfassung finden: Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz. Die Förderung der Tugenden Fleiß, Genauigkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft könnte dabei nicht schaden. Das zu garantieren ist Aufgabe der österreichischen Politik – und der sollte sie sich schnellstmöglich widmen!“, verlangt Türtscher abschließend.